Ein Kessel, der ständig überhitzt, unter Druck steht und das erste Mal abkühlt.
Die Welt läuft 5% langsamer und erstmals in der selben Geschwindigkeit wie ich.
Eine neue Ruhe im Körper – die Anspannung ist weg.
Elvanse lag 8 Monate in meinem Schrank. Zwei Pillen sind einer lieben Freundin vom Laster gefallen für “wenn ich mal schauen will, was an ADHS dran ist”.
Seit dem schob ich es immer vor mir her, dieses Experiment zu beginnen.
Dann kam der März. Am Ende meines ersten Experiment-Tages, schilderte ich ihr meine Eindrücke und sie schrieb trocken “Willkommen bei den Neurodiversen”. Elvanse ist ein Amphetamin, eine Stimulanz – mit einem neurotypischen Gehirn, wäre ich an dem Tag aufgedreht durch die Gegend gesprungen. [1] Stattdessen war ich ruhig, entspannt und konnte das erste Mal seit langem drei Stunden konzentriert arbeiten. Alles war zugänglicher, eine komplett neue Körpererfahrung.
Damit war es klar. Ich habe ADHS.
Seitdem habe ich meine offizielle Diagnose und ich rede regelmäßig drüber. ADHS endlich bestätigt zu haben ist für mich auch ein Coming-Out. I come in pride.
Neu ist mir das Thema nicht, Freunde hatten schon lange die Vermutung und ich wusste ebenso lange, wie ich mich in dem Thema wiederfinde. Gleichzeitig fühlte ich mich wohl Schrödingers ADHSler zu sein und nicht klar als neurodivers oder neurotypisch eingeordnet zu sein. Nun ist diese Einordnung eindeutig.
Die Reaktionen in meinem Umfeld waren fast durchgehend in einem von zwei Lagern:
Das “No, shit sherlock”-Camp, dass als Erstes fragte, ob die Diagnose für mich überraschend sei.
Dem gegenüber steht das Lager “Rehblick” – Menschen, die mich mit großen Augen überrascht und verständnislos anschauen. Deren erste Frage einfach ist, wie es mir damit geht. Danke sehr gut.
Seit dem Sommer hab ich die offizielle Diagnose und bekomme meine eigenen Medis. Ich bin aufgewachsen als jemand, dem immer eingetrichtert wurde mit Medikamenten solange zu warten, wie es geht. Dies lege ich langsam ab. Für Menschen mit Sehschwäche ist eine Brille ein total normale Hilfe. Für Menschen mit einem anders verdrahtetem Gehirn, sind halt Medikamente die Sehhilfe. Ich hab lang genug gezeigt und bewiesen, wie weit ich ohne komme und zu welchem Preis.
Ein Thema, nach dem ich auch gefragt werde ist, ob ich mit Medikamenten nicht die “Fähigkeiten” verliere, die mich aus machen, bzw die ADHS mir gibt. Ich bin top organisiert, super Problemlöser und klasse in Analyse, Pattern-Matching und letztlich vielseitig und kreativ. Ja, den Gedanke, das zu verlieren hatte ich auch, jedoch hörte aber von allen Seiten, dass dies nicht passieren wird. War auch nicht so. All dies blieb Teil von mir, ich gewinne aber Fokus um es besser umsetzen und stärken zu können.
Trotzdem ist es natürlich nicht nur rosig. Ich freue mich über die Diagnose und die Möglichkeiten nun Erleichterung zu finden. Ich sehe auch, wo ADHS mir in den letzten 30 Jahren viele Steine in den gelegt hat. Manche konnte ich selbst von alleine navigieren – andere nicht. Ich bin stolz, was ich in der Zeit alles hinbekommen habe und es gibt trotzdem auch Momente der Trauer, was mir verwehrt blieb und, dass diese Diagnose Teil meines restlichen Lebens sein wird. Einige Dinge werden niemals leicht werden und ich weiß, wie ich manche Themen derzeit auch noch nach hinten schiebe, wo ich selbst eine neue Position entdecken muss, bzw meine Alte reflektieren werde.
Ich dachte vor 6 Monaten es würde jetzt ein ewig langer Side-Quest beginnen, bis ich Diagnose und die Verschreibung habe. Aber ich bin sehr glücklich, dass durch gute Vernetzung und die Hilfe toller Menschen, alles sehr schnell ging. (Therapeuth*Innen, hört auf die Selbstdiagnose eurer Neurodiversen.)
Darüber bin ich sehr dankbar und nun nach einem halben Jahr kann ich mir nicht mehr vorstellen, wieviel Lebensqualität ich ohne die Medikamente auf der Strecke ließ.
[1] Eine andere Freundin schrieb später, sie hätte ADHS herausgefunden als sie gerade feiern war, sich Amphetamine einwarf und wunderte, warum sie plötzlich so hochkonzentriert und fokussiert ist.